Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

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Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Roeland Paardekooper » 03.02.2012 08:44

Archäologische Rekonstruktion in situ sind die beste Methode um die Geschichte einer Fundstelle zu vermitteln – direkt da wo es geschehen ist. Sonst wird die Fundstelle vernichtet und geht die Geschichte(n) verloren.


EXARC publiziert eine Diskussion über dieses Thema und sucht noch Meinungen, gerne 100 – 500 Worten. Falls Interesse, bitte hier melden.
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon hugo » 03.02.2012 09:57

Ich hab schon auf FB zugesagt und hoffe, dass es eine lange Diskussion wird.

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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon ulfr » 03.02.2012 10:31

Sollen wir die Beiträge hier posten, Roeland, oder Dir zuschicken?

Meine Meinung ist eindeutig contra! In Anbetracht der Tatsache, dass Gebäude(re)konstruktionen in den allermeisten Fällen sowieso nur einen Annäherungsversuch an die damalige Realität darstellen, sind "in situ"-Konstruktionen dazu geeignet, Annahmen in gefühlte Fakten zu verwandeln, weil das Konstrukt auf einer echten Fundstelle entsteht und damit den Zauber des Originalen annimmt. Jede Ausgrabung zerstört Fundstellen, wenn diese aber anschließend noch überbaut werden, schließt das jeden weiteren wissenschaftlichen Zugang für immer aus. Man stelle sich vor, der Boden der Hohle Fels Höhle wäre nach den Ausgrabungen anfangs des 20. Jhd. betoniert und zur Schauhöhle umfunktioniert worden in der Annahme, die Höhle sein nun vollständig ergraben, dann müssten wir heute sehr wahrscheinlich ohne Frau Fröhlich und die Geierflöte leben... :2:
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Roeland Paardekooper » 03.02.2012 10:41

gerne hier posten, was ich dann herunterlade fuer EXARC Journal, dafuer werde ich euere Zustimmung fragen... aber wo besser Diskussion als hier im Forum?
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon hugo » 03.02.2012 11:26

Ich bin sprachlos, weil ulfr meine Meinung schon dargelegt hat. Mit seinen Konstrukten interpretiert er meinen 1:1-Modellbegriff. In der Baudenkmalpflege ist es absolut unzulässig, Architekturreste ausser mit original zugehörigen Teilen zu ergänzen. Diese international anerkannte Regel sollte auch für Archäologen selbstverständlich sein. "Insiturekunstruktionen" wie in Xanten oder in Carnuntum sind zwar publikumswirksam aber auch verdisneylandisierend und zerstören oder versiegeln die Befunde.

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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Hans T. » 03.02.2012 11:50

Ich habe keine eindeutige Meinung. Ich lebe in Nürnberg und nahezu alles, was an historischer Substanz zu sehen ist, ist Baujahr 1950 und später. Im Einzelfall hat man sogar völlig zerstörte Gebäude komplett neu erbaut, auch mit neuem Material. Derzeit gibt bzw gab es eine Diskussion über eine Rekonstruktion des sog. Pellerhauses, von dem auch nur noch Reste vorhanden sind.
Im denkmalschützerischen Sinne würde ich allerdings hier argumentieren, dass aufgrund eines guten bis sehr guten Dokumentationsstands aus des Vorkriegsjahren es sich eben nicht um 1:1 Modelle, sondern weitestgehend tatsächlich um Rekonstruktionen handelt.

Was Modelle auf Originalbefunden anbelangt, jedoch ein klares Nein. Dadurch werden Befunde zumindest verfälscht, wenn nicht zerstört. Ich könnte mir im Einzelfall nur recht komplexe archetektonische, fast abstrakte Gebilde vorstellen, die über (wörtlich! Ohne Kontakt!) dem Befund sich befinden könnten.

Ansonsten: Rekonstruktion, Modellbau, Interpretation, ja, auf alle Fälle - nicht nur im experimentellen Sinn, sondern auch im publikumswirksamen Sinn. Aber immer neben dem Befund.

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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Blattspitze » 03.02.2012 12:03

Na, das scheint hier ja eine recht einseitige Angelegenheit zu werden?

Ich erinnere mich, das Anfang der 1980er Jahre das wunderschöne Megalithgrab Waldhusen bei Lübeck, (Eine "Holsteiner Kammer" mit kurzem asymmetrisch ansetzendem Gang)
das schon Eingang in eine Geschichte T. Mann`s gefunden hatte, aus pädagogischen Gründen einseitig einbetoniert werden sollte, dann den geschnittenen überdeckenden Grabhügel darstellend.
Die örtliche Bevölkerung war strikt dagegen ...
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Nils B. » 03.02.2012 12:07

Bin nicht vom Fach aber wäre ebenfalls gegen eine Rekonstruktion in situ, da auch ich eine Verfälschung, bzw. die von Ulfr erwähnte gefühlte Faktenbildung befürchten würde.
Eine Rekonstruktion neben dem Fund ist vergleichbar und flexibel. Sie läßt sich jedrzeit neuen Erkenntnisse anpassen und kann auf dieser Metaebene dem geneigten Publikum auch die Archäologie an sich als progressive Wissenschaft präsentieren, welche nicht nach der ersten Fundanalyse einfriert, sondern sich aufgrund technischer und interpretatorischer Fortschritte selbst zu korrigieren vermag.
Dafür ist es aber in meinen Augen unabdingbar, daß das Original 'unangetastet' bleibt.
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Blattspitze » 03.02.2012 12:20

Ich verstehe Eure Argumente gegen Rekonstruktionen in situ und kann sie auch gut nachvollziehen, aber wie sieht z.B. im Falle ausgegrabener Grabhügel und Megalithgräber Eure Alternative aus? Wiederherstellung des Zustandes wie direkt vor der Grabung?

Ich finde z.B. diese In situ-Rekonstruktion einer auf Befundinterpretation beruhenden Bauphase eines Megalithgrabes interessant (Seite 47):
http://www.jungsteinsite.uni-kiel.de/20 ... ck_low.pdf
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon hugo » 03.02.2012 12:53

@ Blattspitze: In diesem Fall wäre es wohl Konservierung und Restaurierung und nicht Rekonstruktion. Die Denkmalpfleger, wenn auch selten Archäologen, haben hier sehr Vernünftiges zu Stande gebracht, das man fast 1:1 auf archäologische Befunde umsetzen kann.
Vergesst nie, dass man in Nachbarfächern auch denkt!

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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon LS » 03.02.2012 15:08

Hallo,
kommt m. E. auf die Art des Grundrisses an. Eine römische Villa direkt auf den Grundriss einer römischen Villa zu bauen (siehe Carnuntum), halte ich für nicht optimal, zumal es dort nicht an Platz mangelt. Bei einer römischen Therme hingegen könnte ich mir vorsichtige Aufbauten zum Beispiel ganz gut vorstellen, um das eine oder andere besser zu veranschaulichen (z.B. Therme Weißenburg). Zwischen Original und Aufbauten sollte eine klare farbliche Markierung und/ oder Glas/ Plexiglas stehen. Was ich in seiner Langweiligkeit gewagt finde, ist ein gehabtes Römerlager als völlige Freifläche in der modernen Stadt rumstehen zu lassen, wenn eigentlich nur spärliche Mauerreste übrig sind (ebenfalls Beispiel Weißenburg). Da könnte man durchaus etwas Originelles in die Fläche reinstellen - ohne Grundrissreste zu beeinträchtigen, versteht sich.
Und noch was: Limestürme sind langweilig!
Waren nur ein paar flüchtige Gedanken dazu...

Grüße L.
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon hugo » 03.02.2012 16:35

@ LS: Gegen interpretative Ergänzungen hatte ich nie etwas. Mich stören massive, teilweise materialgerechte Ergänzungen, die vorgeben, Realität zu vermitteln und jeder Überprüfung Stand halten, weil niemand die Möglichkeit hat, unter ihren Fundamentbeton zu sehen. Bei der Weckung öffentlichen Interesses ziehen wir alle am selben Strang, aber bitte nicht mit fakes.

@Hans T.: Nürnberg, Köln, Warschau..... in den 50igern ist problematisch, möchte ich aber hier ausklammern.
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Blattspitze » 03.02.2012 19:52

Roeland Paardekooper hat geschrieben:Archäologische Rekonstruktion in situ sind die beste Methode um die Geschichte einer Fundstelle zu vermitteln – direkt da wo es geschehen ist. Sonst wird die Fundstelle vernichtet und geht die Geschichte(n) verloren.


Website Heuneburg, (ohne die dortige konkrete Rekonstruktions-Ausführung fachlich werten zu wollen):
...
Schließlich wurde in den Jahren 1998 bis 2001 das Freilichtmuseum in der Südostecke des Bergplateaus errichtet. Bei der Wahl des Standorts spielten neben fachlichen Gründen hauptsächlich pädagogisch-didaktische Erwägungen eine Rolle. Da der Südostteil der Heuneburg vollständig ausgegraben ist, stellte der Bau der Rekonstruktionen keinen Eingriff in archäologische Substanz dar.
...
Dazu zählen ein etwa 80 m langes Teilstück der Lehmziegelmauer mit dem Donautor...

Bild
http://www.heuneburg.de/keltenmuseum-heuneburg/

Hier wird mit dem Vorteil argumentiert, dass der Befund bereits komplett ergraben wurde, also schon völlig zerstört wurde. Da muss auch nichts mehr geschützt werden.
In der direkten Umgebung vieler in situ Freilicht-Reko-Museen sind durch den großzügigen Museumscharakter weitere Befunde und Funde gut geschützt. Eigentlich auch ein Vorteil, oder?

Wenn auch aus wiss. Sicht verpönt, möchte ich dennoch auf den für Laien wichtigen Aspekt des "originalen" (also wie bei casting-shows: echte Gefühle!) - Schauplatzes hinweisen. Das macht es für Besucher einfach noch mehr sexy! Daraus resultierende höhere Besucherzahlen können für das Museum und umgebende Befunde existenziell sein. Das damit verantwortungsvoll umgegangen werden muss versteht sich von selbst. Leif`s farbliche Markierung ("rote Linie") ist doch nicht schlecht?

Grundsätzlich bin ich im Zweifel für Rekonstruktionen, ... aber Qualität!
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon Hans T. » 03.02.2012 20:59

Hmm. Jetzt mal eine ganz persönliche Anmerkung: Grad die Heuneburg macht mich so nachdenklich. Das Foto zeigt ja die Schokoladenseite. Aber bereits der Eingang mit Maschendrahtzaun und die hübsch geschotterten Wege lösen bei mir eher "echte " Gefühle wie bei der Bundesgartenschau aus. Sicherlich ist ein Bau der Siedlung "neben" dem Befund hier ganz schwierig, dennoch aber denkbar. Ausserdem kenne ich die Heuneburg ja auch schon vor der Bebauung. Das "echte" Gefühl war für mich einfach authentischer, näher, exakter.
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Re: Rekonstruktion in situ - pro oder contra?

Beitragvon hugo » 03.02.2012 22:50

An der Heuneburg ist nicht nur die "Insitureko" störend. Ich versteh ja noch, dass die EU-Gelder termingerecht verbraucht werden mussten. Aber nicht mehr versteh ich, dass man die Kalkung der sündteuren Lehmziegelmauer nach dem ersten Hagelschlag durch Dispersion ersetzte. Schon damals meinten nicht nur böse Zungen, dass nur mehr der nächtliche Neonschriftzug analog zu Hollywood an der Mauer fehlt. Die reetgedeckten Gebäude der Innenverbauung sind Beispiele für Zimmermannshandwerk des 20igsten Jhs. und können auch nur mit den EU-Auflagen erklärt werden. Allein an den Dächern erkennt man, dass Zippelius an den Erbauern spurlos vorüberging.
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